Wie die Nazis ein Haus stahlen
Erinnerung an die Vertreibung einer jüdischen Familie
Es war ein schlichter Brief, der den Alltag einer alten Dame gänzlich durcheinanderbrachte. „Ich habe an dem Tag alles falsch gemacht“, sagt Didi Cune, nachdem sie Post von der Gemeinde Walderseestraße bekommen hatte. Didi Cune ist 89 Jahre alt und die letzte lebende Enkeltochter der Familie, die vor mehr als 100 Jahren das Haus in der Waldstraße gebaut hat, das wir heute ViWA nennen.
Die Villa in der Waldstraße ist jedem Stadt-Historiker in Hannover bestens bekannt. Es war einst das „Parteimuseum“. Die Nationalsozialisten hatten in dem Haus eine Ausstellung über sich selbst untergebracht. Doch dieses Museum gab es nur für kurze Zeit. Wer lebte vorher in dem Haus, was war aus den Menschen geworden?
Wir wollten mehr erfahren und haben uns auf die Suche nach Spuren aus der Vergangenheit gemacht. Dank der Hilfe eines Erbensuchers bekamen wir einen Hinweis auf Didi Cune und haben ihr in einem langen Brief viele Fragen gestellt. Das hat bei ihr eine gewisse Aufregung verursacht, denn seit Jahrzehnten hatte sie nicht mehr über die alten Zeiten nachgedacht. Jetzt aber fielen ihr täglich neue Einzelheiten ein.
Didi Cunes Großeltern, der jüdische Arzt Dr. Ludwig Sternheim und seine Frau Gertrud, waren 1912 mit Sohn und Tochter in die Villa eingezogen. Didi Cune kann viel erzählen aus der Zeit, als sie in den 1920er und 30er Jahren als kleines Mädchen gemeinsam mit ihrer Schwester durch das Haus tobte. Der Großvater war dann gar nicht erfreut, wenn er seine wilden Enkeltöchter beim Herumfahren im Essensaufzug erwischte. Mit der Oma ließ sich mehr Quatsch machen, sie war eine hessische Frohnatur, konnte jodeln und herrliche Torten backen.
Didi Cune selbst hat die muntere Art der Großmutter geerbt und auch ihr Talent zum Backen. Bei einem Besuch bei ihr wartet ein Apfelkuchen auf die neugierigen Gäste. Die Begegnung findet in Haarlem in den Niederlanden statt. Dort ist Didi Cune im Jahr 1923 geboren und aufgewachsen. Ihre Mutter, die Tochter der Villenbesitzer aus der Waldstraße, hatte einen holländischen Kaufmann geheiratet und war nach Haarlem umgesiedelt. Aber die junge Familie zog es regelmäßig nach Hannover. In den Ferien kamen sie zu Besuch und genossen den Luxus des großen Hauses, in dem unter dem Dach auch eine Familie lebte, die sich um das Wohl der Besitzer kümmerte. Dort, wo heute die Pfadfinder ihr Quartier haben, war damals ein Stall für zwei Pferde, mit denen die Kinder gemeinsam mit ihrem holländischen Kindermädchen durch die Eilenriede ritten.
In der Villa gab es viele Feste mit illustren Gästen. Dr. Sternheim war ein bekannter Arzt, gehörte zur gehobenen Gesellschaft der Stadt und war auch am Theater als Mediziner beschäftigt. Er schrieb Bücher über eine gesunde Lebensweise und behandelte seine wohlhabenden Patienten schon 1920 mit der noch jungen alternativen Medizin. Nicht selten verordnete der Arzt auch seinen kleinen Enkeltöchtern besondere Kuren. „Wir mussten immer unter einer Höhensonne sitzen“, erinnert sich Didi Cune mit geringer Begeisterung, „aber damit wir nicht so herumzappelten, spielte der Opa für uns auf dem Schifferklavier.“
Die Villa in der Waldstraße hat jedoch nicht nur glückliche Tage erlebt. Als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen, haben Dr. Sternheim und seine Frau erkannt, was das für Juden bedeuten würde, und flohen nach Holland. Ihre Villa ließen sie leer zurück. Schon bald eigneten die Nazis sich den Besitz an und machten aus dem Haus eine einzigartige Einrichtung im ganzen Deutschen Reich. Die Villa wurde Adolf Hitler gewidmet und 1939 zum Parteimuseum umfunktioniert. Viele Schulklassen mussten sich die Ausstellung ansehen, die in hunderttausenden Büchern, Schriften und Plakaten stolz den Werdegang der NSDAP zeigte. Wo einst Kranke behandelt wurden und Kinder spielten, fanden sich jetzt Hakenkreuz-Fahnen, Waffen und antisemitische Schriften.
Die eigentlichen Besitzer des Hauses hatten auch im holländischen Exil keinen dauerhaften Frieden. 1940 marschierte die Wehrmacht in den Niederlanden ein und die Sternheims und ihre Familie mussten sich im Untergrund verstecken. Didi Cune war 16 Jahre alt, als ein Ehepaar sie auf seiner Tomatenfarm aufnahm. „Immer wenn die Farm von Soldaten kontrolliert wurde, musste ich mich im Keller verstecken“, erzählt sie. Ihren Eltern und Großeltern ging es noch schlechter. Sie wurden von deutschen Soldaten entdeckt und fürchteten das Schlimmste. Doch wie durch ein Wunder, ließ der Offizier sie ziehen. Fast die gesamte Familie überlebte den Krieg, einzig der alte, an Parkinson erkrankte Dr. Sternheim starb genau einen Tag vor der Befreiung der Niederlande.
Nach der Flucht, dem Versteck und dem Krieg, ist nie wieder ein Mitglied der Sternheim-Familie nach Hannover zurückgekehrt. Über einen Notar wurde die Villa an das Bauamt verkauft, das dort dann mehr als 50 Jahre lang wirkte. Im Jahr 2002 erwarb unsere Gemeinde schließlich die Villa und gestaltete das Gebäude zu einem Haus für Kinder. Mit diesem Wandel ist Didi Cune, die selbst als Kind viele glückliche Tage in der Villa verbracht hat, sehr einverstanden: „Das Haus hat doch jetzt eine gute Bestimmung“, sagt sie.