Erinnerungskultur
In der Villa Sternheim an der Ecke Waldstraße/Walderseestraße ist die erstaunliche Erfolgsgeschichte einer jüdischen Familie beheimatet, die in wenigen Generationsschritten vom Rand der Gesellschaft, an dem die jüdische Minderheit im frühen 19. Jahrhundert lebte, in die Mitte bildungsbürgerlicher Kreise der wachsenden Großstadt Hannover aufgestiegen war. Dr. med. Ludwig Sternheim (Jg. 1872) schloss ein Medizinstudium ab, eröffnete eine Facharztpraxis für Blut- und Stoffwechselkrankheiten in Hannover und führte sie über mehrere Jahrzehnte erfolgreich. Er war der Vollender eines familiären Aufstiegs durch Bildung, der auch anderen Nachkommen jüdischer Familien vorzugsweise durch das Studium der Medizin und der Rechte gelang. Die Errichtung der Villa und der Einzug 1912 in dem gehobenen Neubauviertel am Rand des Stadtwaldes war der Schlussakt der standesgemäßen Etablierung des angesehenen Arztes und seiner Familie. Hier hielt er nun seine stark nachgefragten Sprechstunden ab und hier entstanden seine populären Bücher zu medizinischen Themen.
Gut 20 Jahre nach dem Einzug der Sternheims in die Villa, nach der Ernennung des NSDAP-Führers Hitler zum Reichskanzler durch den Reichspräsidenten von Hindenburg, wurde dasselbe Gebäude zum Schauplatz größter Ungerechtigkeit und der Verhöhnung historischer Wahrhaftigkeit. Nachdem der Antisemitismus 1933 zum Regierungsprogramm geworden war, gingen die Sternheims (rechtzeitig) in das niederländische Exil. In das Haus zog schließlich das NSDAP-Gaumuseum und -archiv ein. Es wurde so zum Mittelpunkt geraubter Kulturgüter. Hier bewahrten die Nationalsozialisten Bücher, Dokumente, Zeugnisse, Wertgegenstände ihrer geschlagenen und verfolgten Gegner: Unterlagen von Kommunisten und Sozialdemokraten, Unterlagen der verbotenen Freimaurer, Unterlagen von jüdischen Einrichtungen und widerständigen Christen, Unterlagen der Gewerkschaften, geraubtes Privateigentum von Verhafteten, die in den Konzentrationslagern des NS-Staates leiden mussten und darin zu Tode kamen. Drei Jahre (zu viel) wurden ganze Schulklassen und Erwachsene hier mit Gräuelpropaganda, Lügengeschichten und Trophäen ihrer Raubkultur indoktriniert.
Es ist ein Gewinn für den Stadtteil und für die Erinnerungskultur in der Stadt Hannover, wenn ein solcher Ort in seiner Entwicklung erkennbar wird. Zeigt er doch drastisch, wie brüchig die Errungenschaften von Wohlstand, Freiheit und Gerechtigkeit werden können, wenn sie nicht in einer demokratischen Gesellschaft verteidigt werden. Die Kenntnis solcher Zusammenhänge gehört zum Erbe, das wir der jüngeren Generation, die einmal Verantwortung übernehmen wird, mit auf den Weg geben können. – Vielen Dank daher dem heutigen Inhaber und insbesondere Eckhardt Reimann für diese lebendige und anschaulich geschriebene Darstellung der Entwicklungsstationen der Villa Sternheim an der Ecke Waldstraße/Walderseestraße.
Dr. Karljosef Kreter
Leiter des städtischen Projekts Erinnerungskultur